Die von Attila Dézsi an der Universität Hamburg eingereichte und verteidigte Dissertation "Zeitgeschichtliche Archäologie des 20. Jahrhunderts an Orten des Protests. Kritische Archäologie und Community Archäologie der Freien Republik Wendland" beschäftigt sich aus historisch-archäologischer Sicht mit dem zentralen Protest-Ort der deutschen Anti-Atom-Bewegung: dem anfangs Juni 1980 geräumten Hüttendorf an der "Bohrstelle 1004" in Gorleben. Dabei kommt eine Vielzahl von Auswertungsansätzen zur Anwendung; der fachübergreifende Methodenkanon reicht von Interviews mit Zeitzeugen und der Auswertung von zeitgenössischem wie aktuellem Fotomaterial bis hin zu klassischen archäologischen Techniken wie Metalldetektor-Prospektion, Oberflächensurvey und Grabungsschnitten.
Impulse aus der englischsprachigen Forschung
Fundiert stellt Attila Dézsi in seiner Arbeit zunächst die in der angelsächsischen Forschung längst etablierte Community Archaeology wie auch die Critical Archaeology vor, so die aus dem DGUF-Beirat und externen Gutachtern bestehende Jury. Die Übertragung dieser Forschungszweige in die deutsche Forschung und die deutsche Sprache stellt ein Novum dar, sie ermöglicht deutschsprachigen Forschenden einen vereinfachten Zugang in die genannten Forschungskonzepte.
Das in Deutschland noch junge Forschungsfeld der Zeitgeschichtlichen Archäologie beschränkte sich hierzulande bislang mit wenigen Ausnahmen auf die Archäologie des Zweiten Weltkrieges, in der vorliegenden Arbeit wird es nun auf einen Fundort der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angewandt, der (nicht nur) in der Region Gorleben vielen noch stark präsent ist – dies, zumal der dem Bau des Protestdorfes zugrundeliegende Konflikt noch immer andauert. Die Arbeit hat somit einen starken und konkreten, in der Archäologie sonst meist fehlenden Aktualitätsbezug.
Fachübergreifende Methodik & Community Archaeology
Dézsi bindet fachfremde, aus der Soziologie, Ethnologie oder den Empirischen Kulturwissenschaften bekannte Ansätze, etwa die Befragung von Zeitzeugen für die Erstellung einer Oral History, in seine Arbeit ein und überschreitet damit Fachgrenzen in einer für Deutschland bis dato einzigartigen Art und Weise. Weiterhin integriert er die in Deutschland noch immer in den Kinderschuhen steckende Community Archaeology in sein Forschungsprojekt, etwa durch das Miteinbeziehen von Nicht-Archäologen für Feldbegehungen und Grabungsarbeiten. Diese Verknüpfung von Archäologie und Öffentlichkeit im Sinne einer aktiven Teilhabe letzterer an archäologischer Arbeit und Forschung über die schlichte Mitwirkung an Grabungen hinaus bietet die Möglichkeit der persönlichen Identifikation und emotionalen Verbindung von archäologischer Arbeit mit zeitgenössischen Ereignissen. Dies gibt Dézsis Dissertation hohe Reichweite, Aktualität und Relevanz, aber auch eine akute Verantwortung für die vermittelten Informationen aufgrund ihrer (potenziellen) direkten, konkreten Konsequenzen, weit über das im Fach sonst übliche Maß hinaus.
Wertvolle Ansätze zur Weiterentwicklung des Faches
Eindrucksvoll sind ebenfalls die Betonung verschiedener Ansätze zum Erkenntnisgewinn (Multi-Source Approach), die Offenheit, auch widerstreitende Perspektiven (inhaltliche Reibungen /Quellenwidersprüche) als positive, bereichernde Informationsquelle zu nutzen, und die Vorwärtsgewandtheit durch die Nennung von Zukunftsperspektiven, die aus dem Projekt erwachsen. Die innovative Verflechtung von politischen, gesellschaftlichen und archäologischen Aspekten (Parallelüberlieferung) liefert eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten zur Weiterentwicklung und Verbesserung archäologischer Praxis, aber auch theoretischer Konzepte zu Interpretation und Deutung von Funden und Kontexten. Die Anwendung einer Vielzahl der in dieser Arbeit zur Zeitgeschichtlichen Archäologie gewonnenen Erkenntnisse (z. B. zur Definition von Konstruktionsweisen und Verfüllprozessen) können archäologische Forschungen an konkretem Material unabhängig von zeitlicher und räumlicher Einordnung bereichern. Mit seiner Dissertation gibt Attila Dézsi eine methodische Handreichung, die geeignet ist, zukünftigen Arbeiten im Bereich der Zeitgeschichtlichen Archäologie als Vorbild zu dienen.
Als Fachgesellschaft kann die DGUF die Verbreitung der Studie als Ausgangspunkt weiterer Diskussionen und des Beschreitens neuer Wege nur unterstützen. Auch der Mut, ein konfliktbehaftetes, aktuell immer noch kontrovers und emotional diskutiertes Thema aufzugreifen (Zeitgeschichtliche Archäologie als Intervention) und dieses sichtbar zu machen, verdient Unterstützung.
Die Dissertation wird voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2024 publiziert.
Die Preisverleihung findet im Rahmen der DGUF-Jahrestagung am Donnerstag, 9. Mai, 16 Uhr ff. im Archäologischen Museum der Stadt Frankfurt statt.
Zum Preisträger
Bereits in seinem 2013 in Hamburg abgeschlossenen Bachelorstudium beschäftigte Attila Dézsi sich mit der Archäologie der Neuzeit; seine Bachelorarbeit ist mit "Neuzeitliche Graffiti als archäologisch-kulturanthropologische Quellengattung. Am Beispiel des Casino Zögernitz, Wien" betitelt. Es folgte, ebenfalls in Hamburg, mit der Masterarbeit "Eine Studie zu synchroner und diachroner Variabilität der Geschlechterverhältnisse des frühen und mittleren Neolithikums" ein Ausflug in die Prähistorie. Mit seiner wiederum in Hamburg erarbeiteten, jetzt mit dem Studienpreis der DGUF ausgezeichneten Dissertation kehrte Dézsi wieder zu seinen Wurzeln zurück. Parallel zu seinem Studium nahm er an einer ganzen Reihe von Grabungsprojekten im In- und Ausland teil. Zahlreiche Vorträge, Ausstellungsprojekte, Publikationen, co-organisierte Tagungen sowie universitäre Lehre – dies alles nicht nur zu Teilaspekten seines Promotionsvorhabens –, zeugen von einem hohen fachlichen Engagement, mit verschiedenen Community-Archaeology-Projekten integrierte Dézsi auch die Öffentlichkeit in seine Forschungen, ganz im Sinne seiner jetzt abgeschlossenen Dissertation.
Attila Dézsi ist 2024 als wissenschaftlicher Mitarbeiter des baden-württembergischen Landesamtes für Denkmalpflege und dort im Inventarisierungsprojekt für den KZ-Komplex Natzweiler tätig. Gleichzeitig forscht er im Sonderforschungsbereich RessourcenKulturen der Universität Tübingen zu Kolonisationsprozessen.
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- Wikipedia-Artikel zur archäologischen Untersuchung der "Republik Freies Wendland" [dort]
- Inventarisierungsprojekt KZ-Komplex Natzweiler [dort]
- Mehr über Attila Dézsi (Universität Tübingen) [dort]
- Attila Dézsi bei Academia.edu [dort]
- Attila Dézsi bei Researchgate.net [dort]
Stand: März 2024